From 397c88d872afeb78a38ebb2f1f85012a1ad74e42 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Jim Martens Date: Thu, 9 Jul 2020 22:57:24 +0200 Subject: [PATCH] Added post about corona, cars and terror --- ...ona-autos-terror-eine-spurensuche.markdown | 79 +++++++++++++++++++ 1 file changed, 79 insertions(+) create mode 100644 _posts/2020-07-09-corona-autos-terror-eine-spurensuche.markdown diff --git a/_posts/2020-07-09-corona-autos-terror-eine-spurensuche.markdown b/_posts/2020-07-09-corona-autos-terror-eine-spurensuche.markdown new file mode 100644 index 0000000..507d6df --- /dev/null +++ b/_posts/2020-07-09-corona-autos-terror-eine-spurensuche.markdown @@ -0,0 +1,79 @@ +--- +layout: post +title: "Corona, Autos, Terror und Angst - Eine Spurensuche" +date: 2020-07-09 20:00:00 +0200 +categories: blog +--- + +Spätestens seit März bestimmt Corona unseren Alltag: Maskenpflicht an vielen Orten und die Abstandsregelung sind die +zentralen Einschränkungen, welche uns noch eine lange Zeit begleiten werden. Zwischenzeitlich wurde über Hamsterkäufe +berichtet und der Lockdown war in aller Munde. All das wirkt Anfang Juli bereits als eine Geschichte aus grauer Vorzeit. +Dabei liegen zu diesem Zeitpunkt (9. Juli) weniger als vier Monate zwischen dem Lockdown und den weitgehenden Lockerungen in +Deutschland. In diesem Artikel möchte ich auf meine persönlichen Eindrücke eingehen und vor allem untersuchen, warum +ich auf Corona so ganz anders reagiere als auf die Gefahr eines Autounfalls oder Terroranschlags. + +Autos kenne ich seit meiner Kindheit, sie gehören wohl oder übel zum Leben dazu und spätestens in der Grundschule habe ich +die einfachsten Regeln für mein Verhalten als Fußgänger im Straßenverkehr gelernt: Vor dem Übertreten der Straße nach +links, rechts und erneut links schauen sowie auf dem Gehweg gehen. Insofern waren die Gefahren immer bewusst, aber +ich habe auch früh gelernt damit zu leben und ein Gefühl dafür zu bekommen. Zudem sind Autos prinzipiell sichtbar +und ich kann ihnen aus dem Weg gehen: Spaziergänge durch Fußgängerzonen oder Waldgebiete ohne Straße sind objektiv +frei von der Gefahr eines Autounfalls. + +Terroranschläge können zwar auch mit Autos verübt werden, aber sie zeichnen sich durch einen Überraschungseffekt aus: +Wer im Voraus von konkreten Anschlagsplänen weiß, wird das entsprechende Areal weitestgehend meiden. Daher "erzielen" +sie ihre intendierte Wirkung nur, wenn sie bis zur Durchführung unbekannt bleiben. Für mich bedeutet das: Ich habe +zwar ein konstant diffuses Risiko eines Terroranschlags jederzeit und überall, aber es ist nie konkret. Selbst bei +erfolgten Anschlägen wie auf dem Breitscheitplatz in Berlin hat mir das keine Angst gemacht. Denn ich war nicht davon +betroffen und genau so ein Anschlag würde in zeitlicher Nähe wenig Aussicht auf Erfolg haben: Die Polizei war alarmiert, +Vorsichtsmaßnahmen wurden erhöht und ich konnte Weihnachtsmärkte meiden. Die konkrete Gefahr für mich persönlich war +also nicht gegeben. + +Anders sieht es bei Corona aus: Dort gibt es eine konkrete Gefahr. Allerdings habe ich bei Corona viel mehr Angst +als bei Autos. Konkret bedeutet das: Ich meide weiterhin persönliche Treffen, gehe bis auf Ausnahmen nur ca. 10 Minuten +weit weg zum Einkaufen und trage die Maske jederzeit außerhalb der eigenen vier Wände - ohne Ausnahme. Diese gravierenden +Einschränkungen meiner Bewegungsfreiheit habe ich mir selbst auferlegt. Nach den offiziellen Regeln könnte ich längst +wieder in Deutschland verreisen und auch innerdeutschen Urlaub machen; auch persönliche Treffen mit mehr als zwei +Menschen sind unter Wahrung der Abstandsregeln bereits wieder möglich. Warum schränke ich mich bei Corona derartig +stark ein? Zum Vergleich: Im Hinblick auf Einschränkungen der Bürger*innenrechte bin ich mehrmals auf den "Freiheit statt Angst" +Demonstrationen gegen Massenüberwachung gewesen. An solchen Stellen habe ich mich trotz geringerer **unmittelbarer** +Einschränkung sehr stark zur Wehr gesetzt. + +Um die Frage zu beantworten, werfe ich den Blick zurück auf die Terrorbedrohung: Häufig wird versucht aufgrund der diffusen +Bedrohung durch Terror ganz konkret meine Freiheit einzuschränken; die Folge sind reale und dauerhafte Freiheitseinschränkungen +ohne erkennbaren Gewinn. Im Falle von Corona erkenne ich den Gewinn der Einschränkung und reagiere eher kritisch auf zu +schnelle Lockerungen. Das erklärt die Bereitschaft zur Einschränkung, warum aber habe ich diese große Angst und zwar +immer noch? Die Fallzahlen sinken und rein statistisch ist die Ansteckungsrate in Hamburg aktuell so gering wie noch nicht +zuvor seit dem Coronaausbruch. + +Ein wesentlicher Aspekt scheint mir die Solidarität zu sein: die Schutzmaßnahmen vor Corona benötigen gegenseitigen +Respekt und **alle** müssen sich daran halten, damit wirklich **alle** geschützt sind. Solidarität ist wunderbar, +**wenn** sie funktioniert. Selbst auf meinen kurzen Einkaufstouren beobachte ich aber etwas anderes: viele Menschen +tragen ihre Masken falsch oder fassen sich +trotz Maske ständig ins Gesicht; sie halten Abstände nicht ein. Diese Eindrücke verunsichern mich, denn mein Ansteckungsrisiko +hängt von diesen Menschen und ihrem Verhalten ab. Trotz mustergültigem Verhalten meinerseits kann ich mich anstecken, +weil sich andere nicht an die Regeln halten. Im Gegensatz dazu kann ich alleine durch mein Verhalten mein Risiko von +Autounfällen drastisch reduzieren. Dort ist mein persönliches Risiko also hauptsächlich abhängig von Faktoren, die ich +kontrollieren kann. + +Trotzdem gehe ich aber weiterhin einkaufen und habe auch gute Laune dabei. Nach spätestens einer halben Stunde außer +Haus beginne ich aber die Folgen der Maske zu spüren: Ich kann keinen wirklichen Gedanken mehr fassen und lebe +komplett im Jetzt. Das ändert sich praktisch schlagartig, wenn ich die Maske zu Hause wieder absetze: auf einmal +öffnet sich die Welt und ich kann wieder Gedanken fassen und ich fühle mich nicht länger als Beifahrer meines Lebens. +Vermutlich würden mir viele im Hinblick auf die Maske zustimmen, notwendig bleibt sie trotzdem. + +Warum behalte ich sie aber in einem statischen Setting wie einer Ausschusssitzung auf? Dort sind die Abstände eingehalten, +die Menschen sind immer die gleichen und das Risiko ist somit geringer; auch verhalten sich diese Menschen tendenziell +vernünftig und beachten die Regeln. Das geht auf einen Infozettel einer Apotheke zurück, der bei mir in der Küche hängt. +Dort wird empfohlen wiederverwendbare FFP2-Masken nach einmaliger Nutzung eine halbe Stunde bei 80 Grad Celsius zu +backen. Die Apotheken-Mitarbeiter*innen bei mir vor Ort halten das Backen hingegen für unnötig. +FFP2-Masken haben zumindest etwas Eigenschutz und dieser ist angesichts der unzuverlässigen Solidarität für +mich unerlässlich. Für mich stellt sich also die Frage: Bleibt der Eigenschutz ohne Backen bestehen? Hat die Maske +überhaupt noch eine Eigenschutzfunktion, wenn ich sie zwischendurch in potentiell Corona-belasteter Umgebung absetze? + +Bislang halten mich diese ungeklärten Fragen davon ab, meine selbst gewählte Isolation zumindest abzuschwächen. +Wären beide Fragen mit Ja beantwortet, dann könnte ich schrittweise viel mehr aus der Isolation heraus gehen. Denn dann +hätte ich Freiheit ohne Erhöhung meines Risikos gewonnen. Zumindest meine politischen Termine würden dadurch erträglicher, +weil ich dann zwischendurch trinken könnte und die nachteiligen Effekte der Maske ausblieben. Bis es jedoch soweit ist, +falls es überhaupt dazu kommt, werde ich die Isolation wie gehabt fortführen. + +Live long and prosper! \ No newline at end of file